Zeitblick / Das Online-Magazin der HillAc - 21. Juli 2012 - Nr. 43

Begegnungen mit Tarot

Tarot unter allen Umständen?
von Annegret Zimmer

Die Kartenlegerin sitzt mir gegenüber. Ich bin sehr gespannt darauf, was sie mir gleich über die nächsten Monate meines Lebens sagen wird. Doch ehe sie damit beginnt, die Karten für mich zu befragen, ist erst einmal Meditation angesagt. Etwas beschämt wegen meiner offensichtlichen Ungeduld beeile ich mich, mich zurückzulehnen und die Augen zu schließen. Ich konzentriere mich auf meinen Atem, wie mir geheißen, und warte gehorsam, dass die Beratung endlich beginnt. Behutsam deckt die Frau die erste Karte auf und führt mich dann Karte für Karte durch mein Leben. Langsam aber sicher finden wir in ein Gespräch, wird aus dem Monolog ein Dialog. Die Beratung nimmt ihren Lauf. Und ganz allmählich finde ich Gefallen an dieser sensiblen, geruhsamen Art des Kartenlesens. Schön, einmal eine Kollegin bei der Arbeit zu erleben, sich in der ihr eigenen Art durch die Karten und durch die Betrachtung meines Geschicks begleiten zu lassen.

Ratsuchende, die zu mir kommen, werden eine andere Beratung erleben. Da gibt es weder Meditation noch Gebet zu Beginn, sondern stattdessen eine Tasse Tee und vielleicht etwas Obst oder Kekse in meinem Wohnzimmer und dazu eine kurze Einführung in Tarot: Was können die Karten und wie wirken sie? Mir liegt daran, Ratsuchenden die Befangenheit zu nehmen und sie aufgeschlossen und neugierig zu machen. Meist gelingt mir das ganz gut. Aus meiner Erfahrung heraus decke ich die Karten nicht einzeln auf und bespreche sie nicht nach einander, sondern breite sofort das gesamte Bild aus. Und ehe ich zu erzählen beginne, frage ich, was die Fragesteller selbst in den Karten erkennen, was ihnen gefällt und was sie irritiert oder abstößt. Tarotkarten sind ja Bilder, auf denen jeder etwas entdecken kann, auch wenn er sie zum aller ersten Mal sieht. Auf diese Weise ziehe ich die Fragenden in ein Gespräch, an welchem sie sich gern aktiv beteiligen. Auch wenn sie die Tarotkarten bisher noch nicht kennen, sind sie doch vertraut mit dem eigenen Leben wie sonst kein anderer. Ich bin die Expertin für Tarot, die Ratsuchenden sind Experten für das eigene Leben. Dies ist die Grundlage einer Tarotberatung bei Annegret Zimmer.

Szenenwechsel: Vier Frauen sitzen auf den Bänken eines Biergartens und stecken die Köpfe zusammen. Während die meisten Gäste die Fußballübertragung auf einer Videowand verfolgen, gilt die ganze Aufmerksamkeit der Frauen den Karten, die auf dem Tisch liegen. Eine von ihnen hat Tarot über ein dringendes berufliches Problem befragt. Nun wird gedeutet, gefachsimpelt, gar über die Aussage der Karten gestritten. Gelegentlich fällt eine Bemerkung, die alle zum Lachen bringt. Am Nachbartisch wird vielleicht jemand auf diese Frauen aufmerksam, die die Welt um sich vergessen zu haben scheinen. Mag sein, nebenan spitzt man die Ohren und versucht zu erhaschen, was „die denn da reden“. Nicht, um persönliche Geheimnisse zu belauschen, sondern aus Interesse für die merkwürdigen Karten auf dem Tisch und aus Neugier, was das denn für „Hexen“ sein mögen. Es wird wahrscheinlich ein buntes, vielschichtiges und anregendes Bild ihrer Möglichkeiten sein, welche die junge Frau von diesem Abend im Biergarten mit nach Hause nimmt. Aber können Aussagen, die man unter solchen Bedingungen mit Tarot erhält, überhaupt gültig sein?


Foto: Annegret Zimmer

Drei verschiedene Szenarien, drei Befragungen der Karten, wie sie unterschiedlicher kaum sein können. Was ist richtig, was geht und was nicht? Kann man eine „richtige“ Tarotberatung im Biergarten durchführen? Wie viel Konzentration ist für so etwas erforderlich? Gilt es, ein Minimum an Ritualen einzuhalten?

Viel ist darüber nachgedacht, diskutiert und geschrieben worden, wie eine Beratungssituation aussehen sollte, um gute und sinnvolle Ergebnisse zu liefern. Jeder, der mit den Karten umgeht,  muss seine eigene Sicht entwickeln und individuelle Grenzen setzen. Es gibt keine allgemeingültigen Vorschriften. Letztlich basiert Tarot auf einem Spiel, und spielerisch darf man ihn durchaus handhaben. Doch sollte man auch und gerade beim „Spielen“ auf keinen Fall vergessen, dass Tarot ein sehr wirkungsvolles Mittel ist, um Einblick in Zusammenhänge des Lebens erlangen und Handlungsanregungen zu finden. Meiner Erfahrung nach üben die Karten immer eine Wirkung auf uns aus, auch wenn es manchmal eine gewisse Zeit dauert, bis diese offenbar wird. An eine originelle und lustige Interpretation wird man sich später unter Umständen genauso intensiv erinnern, wie an eine ernst und mit erhobenem Zeigefinger geäußerte. Es ist also ebenso zulässig, eine Kartendeutung unter vier Augen streng und eindringlich zu gestalten, wie spielerisch locker in einer fröhlichen Runde. Freilich kann man nicht in jeder Situation in die existenziellen Tiefen eines Problems eindringen. Im Biergarten werde ich niemals ein Paar beraten, das unter dem Druck einer drohenden Trennung steht. Freundschaftlich aufmunternde Worte für zwei Streithähne sind indes schon drin.

Sinnvoll ist es meines Erachtens, sich selbst Rahmenbedingungen festzulegen, unter denen man die Karten befragen kann. In einer Situation, wo diese Randbedingungen nicht eingehalten werden können, sollte man dann auf jeden Fall auf Tarot verzichten. Hier einige meiner eigenen Prinzipien:

1. Es muss möglich sein, eine sinnvolle Frage zu stellen. Wo durcheinander geredet wird, werden die Karten entsprechend wirr antworten. Je präziser und ernsthafter hingegen gefragt wird, desto aussagefähiger fällt die Antwort meist aus. Die Ernsthaftigkeit einer Frage ist nicht vom Umfeld abhängig, sondern vom Ernst des Fragenden.

2. Wer Tarot befragt, wird immer Antworten erhalten. Man sollte also auch darauf vorbereitet sein, etwas Unerwartetes zu erfahren. Selbst als erfahrene Beraterin kann ich nicht immer endgültig sagen, ob mein Gegenüber wirklich bereit und in der Lage ist, die Aussage der Karte anzunehmen. Wenn ich aber von vorn herein merke, dass das – warum auch immer – nicht der Fall ist, dann nehme ich lieber Abstand von einer Legung.

3. Um die Karten zu befragen, sollte man nicht allzu erregt, verängstigt – oder auch albern – sein. Ist dies dennoch der Fall, dann rate ich auch bei sehr drängenden Fragen, zunächst einmal in sich zu gehen und zur Ruhe zu kommen. Oft ist es erforderlich, erst herauszufinden, was man wirklich wissen will. Erst dann ist es sinnvoll, die Karten zu befragen. Sich innerlich zu sammeln, kann ein paar Minuten in Anspruch nehmen oder ein paar Tage. Manchmal muss man dann noch einmal ganz neu an das Problem heran gehen und sogar das Beratungsumfeld wechseln – vom Biertisch zum stillen Kämmerlein oder umgekehrt.

4. Es ist grundsätzlich nicht ratsam, die Karten übermüdet oder gar unter Einfluss irgendwelcher Drogen zu befragen, weil das eine objektive Interpretation verhindert und den Geist in die Irre führen kann. Je mehr Ernsthaftigkeit und Nüchternheit bei der Befragung herrschen, desto tiefer können die getroffenen Aussagen gehen. Auch im Biergarten in fröhlicher Gesellschaft kann man durchaus hilfreiche Antworten auf brennende Fragen finden. Mit mehreren Zuhörern darum herum ist es aber nur bis zu einem bestimmten Grad möglich, in die Belange eines Fragenden einzudringen. Man entdeckt hingegen oft gute Lösungen auf spielerische Weise, wenn man ein Minimum an Konzentration mitbringt. Ist das nicht der Fall, hat man die Karten im besten Fall umsonst gelegt.

5. Besonders „in fröhlicher Runde“ ist man manchmal dazu geneigt, sich über nicht Anwesende auszulassen. Uns allen sind die vielen Schattierungen vom „über jemanden Reden“ oder liebevollen Scherzen bis hin zum unfreundlichen Tratsch bekannt. Solche Gespräche sind nicht immer zu vermeiden und oft tatsächlich belanglos. Manchmal führen sie jedoch dazu, dass wir die Karten über eine Person befragen. Auch in Beratungsgesprächen kommen zwangsläufig dritte Personen zur Sprache, die auf unser Leben einwirken, und über die wir uns mit Hilfe der Karten Klarheit verschaffen wollen. Solange wir uns dabei ausschließlich damit befassen, wie wir mit dem betreffenden Menschen umgehen, ihn oder sie besser verstehen oder unsere Beziehung zu ihm oder ihr gestalten können, ist das in Ordnung. Vor allem wenn wir tatsächlich auf die Antwort hören. Allerdings wird in meinen Augen dann eine Grenze überschritten, wenn man beginnt, das Leben einer Person auszuspionieren oder beeinflussen zu wollen, die nicht vor Ort ist und keine Ahnung von ihrem „Glück“ hat. Dies ist eine Indiskretion, die ich weder am Biergartentisch noch im Beratungsgespräch akzeptieren kann.

Dies nur einige Aspekte, auf die ich bei der Gestaltung eines Beratungsgesprächs genauso achte wie beim Kartenlegen in fröhlicher Gesellschaft. Mehr dazu kann man auch im Ehrenkodex des Tarot e.V. finden, dem ich angehöre (s. www.tarotverband.de). Wenn man sich der Verantwortung bewusst ist, die in jedem Umgang mit Tarot liegt, kann man an beinahe jedem Ort und unter fast allen Bedingungen nutzbringend Karten legen – sofern nur genug Licht vorhanden ist, um die Bilder zu erkennen. Gerade das ist ja das Schöne an Tarot.

Annegret Zimmer lebt und arbeitet in Halle/Saale und ist Gründungsmitglied des Tarot e.V. Erster Deutscher Tarotverband.